Stettmer, C., M. Bräu, P. Gros & O. Wanninger (2006): Die Tagfalter Bayerns und Österreichs. – 240 S.; Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege (ANL) [Hrsg.].

Bezugsadresse siehe [http://www.anl.bayern.de/pub/tagfalter.htm] [Achtung: bis 30.6.2006 noch 16 €, danach 22 €.]

Besprechung von Erwin Rennwald

Was darf man erwarten, wenn 2 Autoren aus Bayern und 2 aus Österreich ein 240 Seiten umfassendes Taschenbuch über „Die Tagfalter Bayerns und Österreichs“ verfassen? Sicher kein Kompendium, das alle Aspekte der Arten berücksichtigt. Wer sich in Bayern etwas näher mit Tagfaltern beschäftigt, der weiß, dass da seit Jahren ein intensives Projekt „Tagfalteratlas“ läuft. Also ein billiges Schmalspur-Konkurrenzprodukt? Nicht im Mindesten! Das Taschenbuch will in keinster Weise Konkurrenzprodukt zum Atlas sein – aber jener wird voraussichtlich auch erst in 2-3 Jahren erscheinen. Aber was will das Taschenbuch sonst? Es ist gedacht als „Bestimmungsbuch nicht nur für versierte Ökologen, Biologen, Kartierer, Studenten sowie Naturschützer und Landschaftspfleger. Aufgrund der vielfältigen Bestimmungshilfen auch besonders geeignet für Einsteiger, Naturliebhaber und alle die mehr über unsere Tagfalter wissen wollen“. Es zeigt „alle Arten mit ihren Unterscheidungsmerkmalen in Farbtafeln und Texttabellen“ und es liefert „praxisrelevante Informationen zu Hauptbestimmungsmerkmalen, Habitat, Larvalentwicklung, Flugzeit, Verbreitung sowie Gefährdung“.

Aber Moment mal – erschien da nicht 2005 „Schmetterlinge. Die Tagfalter Deutschlands“ von Settele et al., das ja genau das Gleiche verspricht und auch bietet? In der Tat, die Autoren wussten schon im Vorfeld um jenen Band – und umgekehrt. Wer das „Settele-Buch“ kennt, wird sich in den kurzen Texten zu den Punkten „Hauptmerkmale“, „Habitat“, „Larvalentwicklung“ und „Flugzeit“ sicher rasch zurechtfinden. Aber er wird auch feststellen, dass da nicht einfach abgekupfert wurde, sondern dass die Autoren gearbeitet haben. Die Habitatbeschreibungen beziehen sich ganz klar auf das im Titel genannte Gebiet, ebenso die Angaben zur Flugzeit. Und bei der Nennung der Raupennahrungspflanzen wurden Angaben, die die Autoren aus eigener Anschauung bestätigen können, durch Fettdruck hervorgehoben. Das Taschenbuch will in allererster Linie eine Bestimmungshilfe im Gelände sein. Und gerade beim Block „Hauptmerkmale“ gab es viel zu tun: Zu vergleichen gab es hier z. B. nicht 6 Arten der Gattung Erebia sondern 26! Das hängt damit zusammen, dass das „Settele-Buch“ auch für Deutschland die alpinen Arten aussparte – letzten Endes in Absprache mit den Autoren des neuen Taschenbuches.

Der neue Band bespricht „über 200 in Bayern und Österreich heimische Tagfalter, einschließlich aller alpinen Arten“. Damit deckt das neue Buch – mit Ausnahme von Carterocephalus silvicolus – auch alle Arten ab, die das „Settele-Buch“ bespricht. Trotzdem braucht sich niemand zu ärgern, wenn er in Deutschland wohnt, und das „Settele-Buch“ schon gekauft hat: Er/sie wird es weiter mit Gewinn nutzen. Vor allem braucht er/sie sich nicht von den vielen in Deutschland außerhalb der Alpen fehlenden Arten verwirren zu lassen. Und das neue Buch hat gegenüber dem „Settele-Buch“ auch einige Nachteile (keine Verbreitungskärtchen, keine Phänogramme, keine Abbildungen von Präimaginalstadien, vor allem aber nur sehr wenige Aufnahmen lebender Falter).

Trotzdem: Der neue Band über die Tagfalter Bayerns und Österreichs hat auch seine Stärken, und nicht wenige: Das Wichtigste ist natürlich, dass man jetzt endlich auch für die alpinen Falter etwas Zuverlässiges und Umfassendes zum Mitnehmen hat („Schmetterlinge und ihre Lebensräume“ aus der Schweiz ist wohl doch etwas zu schwer für den Rucksack). Ja, es sind (bis auf einige Irrläufer) alle Arten besprochen und abgebildet. Es stimmt, was da im Prospekt behauptet wird: „Besonderer Wert wird auf die Ansprache der Arten im Freiland gelegt – durch die Zusammenfassung ähnlicher Arten im Abschnitt „Bestimmungshilfen“ und die Hervorhebung der zur Artdiagnose und -differenzierung wesentlichen Merkmale werden auch die schwierigen Gattungen erschlossen.“ In den Bildtafeln werden viele wesentlichen Details einfach per Lupe herausvergrößert – man weiß also, worauf man achten muss und wie das Ergebnis einer eventuell tatsächlichen Lupenkontrolle auszusehen hat. Kurze Schlagworte verraten – wie im Settele-Buch, das Wesentliche. Weil der Pfeil dahin führt, lernt man ganz nebenbei, wo z.B. eine Postdiskallinie zu finden ist. Der neue Band enthält auch zu den deutschen Flachlandarten etwas mehr Abbildungen, z.B. auch Unterseiten von Tagpfauenauge, Admiral oder Distelfalter und bei mehr Arten auch Männchen und Weibchen.

Die Bildtafeln sind in beiden Büchern ähnlich aufgebaut. Mir persönlich gefällt das etwas wärmere Hintergrund-Grau des „Settele-Buchs“ besser, aber das ist sicher Geschmackssache und für die Bestimmung bedeutungslos. Die Bildqualität ist gut. Bei manchen Tafeln fehlt wohl ein kleines bisschen Gelb oder Rot, die Falter kommen da etwas düster heraus, etwa bei der Zipfelfalter-Tafel oder den nachfolgenden blauen Bläulingen. Die Tiere wirken also deutlich dunkler und blauer als im „Settele-Buch“ – die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. Und tauglich für die Bestimmung der Falter sind beide Bände allemal.

Ein etwas leidiges Thema ist die Nomenklatur. Die Autoren richten sich hier konsequent nach der Europaliste von Karsholt & Razowski (1996), was – zumeist bei den Gattungsnamen – zu diversen Abweichungen gegenüber dem „Settele-Buch“ führt, etwa Brintesia circe statt Aulocera circe, Hyponephele lycaon und Pyronia tithonus (die sonst beide in der Gattung Maniola zu finden sind), oder Pseudophilotes baton statt Scolitantides baton. Das verwirrt den Einsteiger etwas, ließ sich aber wohl nicht vermeiden. Dass auch die deutschen Namen nicht vollständig (aber doch weitgehend!) zusammenpassen, liegt in der Natur der Sache.

Die Bayerische Akademie für Naturschutz und Landschaftspflege veranstaltet seit 1998 alljährlich ein „Artenkenntnis-Praktikum Tagfalter“, das vor allem von „interessierten Laien“ genutzt wird. Genau aus diesem Kurs heraus wurde der neue Band auch geboren. Man merkt es, dass da viele, viele praktische Erfahrungen mit der Vermittlung von Artenkenntnis eingeflossen sind. Folge davon war u.a. das „Novum: Bestimmungshilfen in Form von Übersichtstafeln, die anhand leicht erkennbarer Merkmale eine Vorsortierung und Eingrenzung der Artauswahl erlauben und damit gerade Einsteigern die Bestimmungsarbeit ganz wesentlich erleichtern!“ Da wird auf 5 Doppelseiten ein mit kleinen Lebendfotos bebilderter Bestimmungsschlüssel geliefert, der als rasche Orientierung bestens geeignet ist. Auch wenn er für den Einsteiger gedacht ist – ich bin mir sicher, dass die Seite mit der Vorsortierung der alpinen Erebien auch von manchem Flachlandprofi heimlich genutzt wird. Ich jedenfalls werde mich nicht genieren, das Buch in den Alpen öfter mal aus dem Rucksack oder der Hosentasche auszupacken.

Das Buch macht auch ausdrücklich Werbung für das Projekt „Tagfalter-Monitoring“ in Deutschland. Mal sehen, ob das nicht eine Initialzündung auch für Österreich wird.

Fazit. Wer sich in Österreich oder den bayerischen Alpen mit Tagfaltern beschäftigen will, der „muss“ diesen Band nicht nur haben, sondern auch mitnehmen. Und wer nur ab und zu mal in die Alpen kommt und dort nicht gleich vor der Artenvielfalt kapitulieren will, der findet keinen besseren Feldführer als diesen. Wer als norddeutsche Flachlandratte vom „Settele-Buch“ profitiert, der sollte sich auch den neuen Band rechtzeitig vor dem Alpenurlaub zulegen. Der Feldführer im Plastikeinband ist sein Geld wert, auch dann noch, wenn er bald 6 € mehr kostet.