Leraut, P. (2006): Moths of Europe. Volume I. Saturnids, Lasiocampids, Hawkmoths, Tiger Moths... – Verrières le Buisson (N.A.P. Editions), 395 S., 78 Farbtafeln mit Abbildungen von 1098 Exemplaren. ISBN 2-913688-07-1. 20 x 13 x 2,5 cm, 530 g. Mehr Informationen auf der Webseite des Verlages: www.napeditions.com.

Besprechung von Axel Steiner

Patrice Leraut, der bekannte Autor zahlreicher Artikel und Bücher ("Les papillons dans leur milieu", "Liste des Lépidoptères de France, Belgique et Corse"), legt hier den ersten von drei geplanten Bänden über die größeren Nachtfalter Europas vor. Der Feldführer im Stil der Tagfalter-Bücher von Higgins & Riley und Tolman & Lewington ist in einer englischen und einer französischen Version erschienen. Er behandelt verschiedene "Spinner"-Familien und lädt natürlich sofort zum Vergleich mit dem ähnlich angelegten Buch "Guide des Papillons Nocturnes d'Europe et d'Afrique du Nord" von Rougeot & Viette (1978) ein. Während aber in dem Rougeot & Viette-Führer nur acht "Spinner"familien behandelt wurden, enthält der Leraut-Führer die folgenden neunzehn Familien:

  • Saturniidae: 10 Arten (+ 1 außereuropäische Art abgebildet)
  • Lemoniidae: 4 Arten (+ 3 außereuropäische Arten abgebildet)
  • Brahmaeidae: 1
  • Bombycidae: 1
  • Endromidae: 1
  • Notodontidae: 47 (+ 8 außereuropäische Arten abgebildet)
  • Lasiocampidae: 38 (+ 19)
  • Drepanidae: 20 (+ 1)
  • Lymantriidae: 28 (+ 6)
  • Axiidae: 3 (+ 2)
  • Limacodidae: 4 (+ 1)
  • Somabrachyidae: 1 (+ 5)
  • Heterogynidae: 7 (+ 2)
  • Thyrididae: 1
  • Castniidae: 1 (die neuerdings nach Südeuropa eingeschleppte, große, südamerikanische Paysandisia archon, die in kürzester Zeit im Mittelmeergebiet und in Südengland zu einem gefürchteten Schädling der Palmen geworden ist)
  • Cossidae: 17 (+ 29)
  • Sphingidae: 33 (+ 3)
  • Hepialidae: 15 (+ 6) und
  • Arctiidae: 88 (+ 28).

Insgesamt werden also 320 europäische Arten detailliert abgehandelt und weitere 114 nordafrikanische, nahöstliche und selbst zentralasiatische Arten werden auf den Tafeln abgebildet "for complementary information and for their beauty".

Das Bearbeitungsgebiet ist, wie der Titel schon sagt, Europa. Wie der Autor Europa im Osten abgrenzt, wird leider nicht angegeben – dies wird von unterschiedlichen Autoren ja durchaus unterschiedlich gehandhabt. Bis zum Ural ist Leraut jedenfalls nicht gegangen. Merkwürdigerweise wurde für die Verbreitungskärtchen eine Kartenprojektion verwendet, die den größten Teil der Balkanhalbinsel ausschließt; sie liegt rechts außerhalb des Kartenrahmens und wird also nicht dargestellt. Dies ist umso unverständlicher, weil die Karten auf der linken Seite des Rahmens eine große Fläche leeren Atlantik enthalten; hätte man Europa etwas nach links gerückt und zusätzlich eine brauchbare Projektion verwendet, dann hätten auch Griechenland, Mazedonien, Bulgarien, Rumänien, Moldavien, die Ukraine und Weißrußland noch auf die Verbreitungskarte gepaßt. So aber bleiben südöstliche Arten wie Axia nesiota, Hyles zygophylli, Stygia mosulensis, Dyspessa salicicola schlicht ganz ohne Verbreitungskarte, während sich bei anderen Arten wie Lemonia balcanica, Peridea korbi oder Dolbina elegans das dargestellte Verbreitungsgebiet auf einen Punkt am äußersten rechten Kartenrand beschränkt. Außerdem hätte man hier gern eine Karte mit modernen politischen Grenzen gesehen: Litauen, Lettland und Estland werden noch als Bestandteile Rußlands dargestellt, Tschechien und die Slowakei als ein Land und Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Mazedonien ebenfalls noch als ein Land.

Der Textteil enthält für jede europäische Art kurze Beschreibungen von Männchen und Weibchen sowie Kapitel zu Variationsbreite, nah verwandten Arten, Biologie (mit Angaben über Raupennahrungspflanzen, Lebensraum, Höhenverbreitung), Flugzeit, Verbreitung, Status (Abundanz), Kommentare sowie landessprachliche Namen auf Englisch und Französisch. Im Textteil finden sich ferner zahlreiche Strichzeichnungen des bekannten wissenschaftlichen Illustrators Gilbert Hodebert, die bestimmungsrelevante Details wie Flügelgeäder, Flügelzeichnungen und Genitalorgane darstellen.

Für einen Feldführer eher unüblich (und wohl auf die Taxonomen als zusätzliche Käufergruppe spekulierend) ist das Vorhandensein mehrerer Neubeschreibungen, die man in einer wissenschaftlichen Zeitschrift detaillierter und mit mehr Abbildungen hätte publizieren können. Drei neue Arten und fünf neue Subspezies werden beschrieben: Cilix algirica n. sp. aus Nordafrika und (noch etwas zweifelhaft) Portugal, Heterogynis valdeblorensis n. sp. und Heterogynis pravieli n. sp., beide aus Frankreich, Paidia rica lusitanica n. ssp. aus Portugal, Eilema lutarella luqueti n. ssp. aus Frankreich, Notodonta dromedarius cleui n. ssp. aus den französischen Alpen, Orgyia aurolimbata catalonica n. ssp. aus den Pyrenäen, Somabrachys codeti rungsi n. ssp. aus Marokko; sowie fünf neue Formen. Darüber hinaus werden eine beträchtliche Zahl von Statusänderungen, neuen Gattungskombinationen und neuen Synonymien eingeführt. Die Gattung Somabrachys erfährt eine taxonomische Neubewertung: Leraut spaltet sie in nicht weniger als sechs Arten auf, während De Freina & Witt (1990) noch alle Somabrachys-Taxa in einer einzigen Art vereinigt hatten. In der Gattung Setina werden nur drei europäische Arten anerkannt: irrorella, ramosa (= aurita nom. praeocc.) und roscida; alle übrigen Taxa werden als Subspezies oder Synonyme behandelt. Aus der Gattung Holcocerus werden neben dem europäischen Holcocerus aries nicht weniger als 13 zusätzliche paläarktische Arten abgebildet, einige davon aus anderen Gattungen nach Holcocerus transferiert (Taf. 42-43).

Eine für viele Leser interessante faunistische Neuheit dürfte die große, südamerikanische Castniide Paysandisia archon sein, die wohl in den späten 90er Jahren aus Argentinien nach Südeuropa eingeschleppt wurde und sich in kürzester Zeit im Mittelmeergebiet und auch in Südengland zu einem gefürchteten Schädling der Palmen entwickelt hat, in denen ihre Raupe lebt.

Einige Uneinheitlichkeiten in der Darstellung sind zu vermerken: mehrere nordeuropäische Arten (Holoarctia fridolini, Acerbia alpina und die seltene Borearctia menetriesi) werden weder abgebildet noch im Textteil behandelt, sondern nur bei verwandten Arten im Abschnitt "Kommentare" kurz erwähnt. Bei Eilema lurideola wird auf der Farbtafel wie im Textteil ein Exemplar mit untypisch verkürztem Costalstreifen abgebildet. Das Weibchen von Pharmacis claudiae ist nicht mehr, wie angegeben, unbekannt, sondern wurde schon vor Jahren abgebildet und beschrieben (Bertaccini & al. 1997, Schweizerischer Bund für Naturschutz 2000).

Auf den Farbtafeln werden die Falter vor weißem Hintergrund freigestellt gezeigt und sind mit einem künstlich erzeugten grauen Schatten versehen – eine Spielerei, die die meisten Bildbearbeitungsprogramme anbieten und der zu widerstehen anscheinend nicht leicht fällt. Solche Schatten können durchaus hilfreich sein, wenn es sich um weiße Falter oder um Arten mit hell-dunkel gescheckten Fransen handelt, aber bei graubraunen Tieren wird dadurch manchmal die Flügelform verschleiert oder bei anderen die Fühlerstruktur schwerer erkennbar.

Die Falter wurden mit einer ziemlich niedrig und dabei vor (nicht über) dem Exemplar plazierten Lichtquelle beleuchtet, so daß manchmal die Flügelunebenheiten wie Falten und Adern unangenehm sichtbar werden. Dies ist besonders bei den Eilema-Arten störend, bei denen die Schatten die feinen Farbabstufungen beeinträchtigen.

Bei einigen seltenen Arten hat man die selben Individuen aus dem Pariser Museum fotografiert, die schon im Rougeot & Viette abgebildet wurden (z.B. RV-Tafel 22 und Leraut-Tafel 19). So kann man hier fast drei Jahrzehnte technischen Fortschritt in Fotografie und Drucktechnik vergleichen, wobei der Vergleich für das ältere Werk gar nicht so ungünstig ausfällt. Das Leraut-Buch hat allerdings ein feineres Druckraster und die Gradation in den hellen Tönen ist wesentlich besser, ohne ganz weiß aufgehellte (überbelichtete) Stellen, wie sie bei den weißen Arten gern auftreten. Dafür scheint manchmal ein wenig das ganz dunkle Ende des Spektrums zu fehlen, was an der verwendeten Papiersorte liegen mag.

Besonders schade ist es, daß so viele Tafeln die Falter nur verkleinert zeigen. Bei Familien mit überwiegend großen Tieren wie Saturniidae oder Sphingidae wird dadurch die Erkennung kaum beeinträchtigt. Aber in allen anderen Fällen ist die verkleinerte Darstellung zumindest ärgerlich, oder womöglich hinderlich, falls der Benutzer mit den betreffenden Arten noch nicht vertraut ist. Selbst innerhalb der selben Tafel wechselt manchmal der Verkleinerungsfaktor: beispielsweise sind einige Falter von Hepialus humuli in der selben Größe dargestellt wie Gazoryctra ganna. Dafür werden auf mindestens einer Tafel (Heterogynidae und Thyrididae) die Falter leicht vergrößert gezeigt. Zwar wird auf den Tafellegenden zu jeder Art die Spannweite genannt (z. B. "28-40 mm"), doch das ist nicht wirklich hilfreich, weil es entweder eine gewisse Kenntnis der betreffenden Gruppe voraussetzt oder den Gebrauch eines Lineals erfordert. (Das Buch enthält leider keine auf dem Buchdeckel oder den Vorsatzblättern aufgedruckte Zentimeterskala, wie es bei anderen Naturführern Standard ist.)

Zweifellos bieten die Abbildungen all der nahöstlichen und zentralasiatischen Arten einen interessanten Vergleich, aber mancher Leser wird sich doch fragen, ob man nicht darauf hätte verzichten können zugunsten von lebendgroßen Abbildungen der europäischen Arten. Oder hätte man die nordafrikanische Fauna – die durch die Abbildungen schon ziemlich vollständig abgedeckt ist – nicht auch im Text behandeln können, wie bei Rougeot & Viette?

Das Buch ist, wie es sich für einen Feldführer gehört, gut verarbeitet und hat einen robusten, laminierten Einband. Mit 20 x 13 x 2,5 cm Größe ist das 530-g-Buch erstaunlich kompakt und dürfte sich vor allem für diejenigen Leser als attraktiv erweisen, die sich keine Wälzer von der Größe und dem Preis der De Freina & Witt-Bände leisten wollen, sondern ein geländetaugliches und dabei umfassendes, aktuelles und preislich einigermaßen erschwingliches Werk suchen (beide Ausgaben kosten 59 €)."

Man kann gespannt sein, wie die beiden angekündigten Folgebände aussehen werden, die – vermutlich – die Eulen und Spanner enthalten sollen. Angesichts der viel größeren Artenzahlen in diesen Gruppen wird die Darstellung wohl wesentlich gestrafft werden müssen, falls wirklich alle Arten abgehandelt werden – oder die Bücher müssen auf mehrere Teilbände aufgeteilt werden.

Erwähnte Literatur: