Bachelard, P., Bérard, R., Colomb, C., Demerges, D., Doux, Y., Fournier, F., Gibeaux, C., Maechler, J. Robineau, R., Schmit, P. & Tautel, C. (2007): Guide des papillons nocturnes de France. – Paris (Delachaux & Niestlé). 288 S., 55 Farbtafeln. ISBN 978-2-603-01429-5 35 € [für Kunden in Frankreich 33,25 € einschließlich Porto bei amazon.fr]

Besprechung von Axel Steiner

Gerade liegt es vor mir auf dem Tisch, 288 Seiten stark, im Format 22 x 25 cm, mit 55 Farbtafeln, auf denen alle 1626 Nachtfalter Frankreichs abgebildet sind, das heißt: die traditionellen nachtaktiven "Groß"schmetterlingsfamilien von den Hepialidae, Cossidae, Limacodidae über die verschiedenen "Spinner" und Schwärmer bis zu den Spannern und Eulen. Nicht enthalten sind die Sesiidae, Zygaenidae, Heterogynidae und Psychidae.

Dies ist das erste vollständig bebilderte Buch über die Nachtfalter Frankreichs seit den kleinen Bänden ("Atlas Boubée"), die Claude Herbulot († 2006) in den sechziger Jahren herausgegeben hat und es ist kein Zufall, daß ihm das vorliegende Werk gewidmet ist. Bearbeitet von 11 Autoren, die sich als "entomologistes amateurs" bezeichnen, unter denen sich aber so bekannte Namen wie Roland Bérard, Christian Gibeaux, Claude Tautel, Jean Maechler und andere finden, ist das Buch unter Federführung von Roland Robineau herausgegeben und mit einem Vorwort von Altmeister Pierre Viette versehen.

Die knappen, aber informativen Texte enthalten kurze Angaben zum Gesamtverbreitungstyp (z. B. eurasiatisch, atlantomediterran etc.), zur Verbreitung (und gegebenenfalls Höhenverbreitung) in Frankreich, zum Lebensraum, den Raupennahrungspflanzen und zur Flugzeit. Bei vielen schwer bestimmbaren Arten werden Bestimmungsmerkmale erläutert, aber das betrifft nur die äußerlich bestimmbaren Arten; genitalmorphologische Merkmale bietet das Buch nicht.

Leider hat es auf den Tafeln in den meisten Fällen nur für ein bis drei Falter pro Art gereicht, was bei den Eulen und Spannern nicht immer genügt, um die Variabilität abzudecken. Dafür gibt es, wo notwendig, auch Unterseitenfotos (z.B. Gnophos-Gruppe, Glacies), und es gibt in einigen Fällen zusätzliche Schwarzweißabbildungen im Text, die wichtige Bestimmungsmerkmale herausheben.

Auch Verbreitungskarten gibt es nicht, was mit dem sehr uneinheitlichen Durchforschungsstand und der Schwierigkeit, die faunistischen Daten zusammenzustellen und zu verarbeiten, begründet wird. Es laufen zwar in Frankreich verschiedene regionale Kartierungsprojekte, aber ansonsten sind die Aussichten für eine vollständige Kartierung der Landesfauna eher noch düsterer als bei uns. Dafür sind die Textangaben bezüglich der nationalen Verbreitung auf dem neuesten Stand und gelegentlich werden nicht nur Regionen und Départements, sondern konkrete Fundorte genannt.

Die Farbtafeln, von Yann Baillet professionell fotogafiert, zeigen die Falter auf hellgrauem Hintergrund montiert, der – zumindest auf mich – sehr viel ansprechender wirkt als der grellweiße Hintergund der Tafeln in Patrice Lerauts "Moths of Europe, vol. 1" (meine kürzliche Buchbesprechung dazu findet sich hier). Als weiterer wichtiger Unterschied zu Lerauts Bestimmungsführer ist zu vermerken, daß die Tiere durchweg in natürlicher Größe bzw. in einigen Fällen (Idaea- und Eupithecia-Arten) in 1½-facher Vergrößerung abgebildet sind. Der schwache, diffuse Schatten, der bei den meisten Tieren unter den Hinterflügeln sichtbar wird, stört kaum; bei weißlichen Tieren oder Exemplaren mit weißen Fransen dient er sogar der besseren Erkennbarkeit. Die Beleuchtung ist äußerst geschickt gemacht: die Haupt-Lichtquelle befand sich wohl auf der Kopfseite vor und über dem Falter, war aber sehr diffus, so daß eine schöne Gesamtausleuchtung erzielt wurde, die primär die Feinheiten der Zeichnung wiedergibt, aber andeutungsweise – und daher nie störend – auch die Flügeltextur, also Geäder, Falten, Haare oder z.B. die Flügellappen bei den "Lappenspannern" (Lobophora u.a.) erkennen läßt. Das Druckraster ist fein genug gewählt, um die fotografischen Details auch zur Wirkung zu bringen.

Als positiv empfinde ich auch die eher verhaltene Intensität der Farben, die der Differenzierung gerade der bei den Nachtfaltern so wichtigen Braun- und Grautöne sehr entgegen kommt. Die gegenteilige Arbeitsweise läßt sich ja leider oft bei mass-market-Naturführern beobachten, bei denen die Druckerei so viel Farbe auf die Tafeln knallt, daß das Buch wie ein Pop-Art-Produkt daherkommt. Hier dagegen merkt man, daß Spezialisten mit Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl am Werk waren.

Die Nomenklatur ist auf dem neuesten Stand (somit aktueller als die im Lepiforum verwendete Rarsholt & Razowski-Liste von 1996), mit einigen bekannten französischen Eigenheiten, etwa der Aufwertung der Untergattungen von Acronicta zu Gattungen, die im deutschen Sprachraum eher unüblich ist (Viminia rumicis, Triaena psi, Arctomyscis aceris, Jochaera alni usw.), ansonsten bei den Noctuiden nach "Noctuidae Europaeae" und bei den Geometriden nach den "Geometrids of Europe"-Bänden (soweit erschienen).

Gegenüber der zweiten Auflage der Leraut-Liste (1997) [Für die, denen "Leraut-Liste" kein Begriff ist: das ist eine synonymische Checkliste aller Lepidopteren Frankreichs, Belgiens und Korsikas] sind allein unter den hier behandelten nachtaktiven "Groß"schmetterlingen 35 Arten für die französische Fauna neu hinzugekommen – ein Indiz sowohl für Frankreichs Biodiversität als auch für die dort noch möglichen Entdeckungen und teils wohl auch für die Auswirkungen der Klimaveränderung. Manches ist einfach nur überraschend: Schinia cognata ist 2006 in den Hautes-Alpes entdeckt worden. Pyrocleptria cora ist ebenfalls an 2 Fundorten in den Hautes-Alpes aufgetaucht. Dyscia raunaria ist im Roya-Tal (Alpes-Maritimes) gefunden worden, dem bisher westlichsten Fundort der Art (und wurde prompt als eigene Art, "Dyscia royaria Tautel & Billi, 2006", beschrieben, wird aber demnächst mit D. raunaria synonymisiert oder zur Subspezies zurückgestuft werden). Schon seit ein paar Jahren im Gespräch ist Archiearis touranginii, die 1870 von Berce als Varietät von A. notha aus Zentralfrankreich beschrieben und 2000 von Bérard wiedergefunden und als eigene Art erkannt wurde. Mittlerweile wurde sie auch in Spanien und – deutsche und Schweizer Faunisten aufgepaßt! – in der Nähe von Mulhouse gefunden. Craniophora pontica hat 2005 in den Pyrénées-Orientales französisches Gebiet erreicht. Cucullia hartigi Ronkay & Ronkay, 1988, bisher als sardischer Endemit aufgefaßt, wurde auch auf Korsika gefunden. Die erst kürzlich von Eupithecia distinctaria abgetrennte und bislang nur aus Spanien bekannte Eupithecia senorita Mironov, 2003 ist nun bis zu den Corbières (Aude) nachgewiesen worden. Auch neue Zuwanderer gibt es immer wieder: So ist Agrotis herzogi 2006 mit von der Sahara wehenden Winden bis in den Hérault und die Bouches-du-Rhône verdriftet worden. Die neotropische Anomis erosa ist in einer Baumschule bei Angers eingeschleppt worden und scheint sich in der Region einzubürgern. Neu für Korsika und damit Frankreich: die kleinste Noctuide Europas, Araeopteron ecphaea, die erst seit 1990 aus Europa bekannt ist und in den letzten Jahren in der Türkei, Griechenland, Spanien und Italien auftauchte, ob als Arealerweiterer oder weil diesen Winz-Noctuiden inzwischen mehr Augenmerk geschenkt wird, weiß man nicht.

Ihr merkt vielleicht an dieser Aufzählung: Das Buch lädt auch zum faunistischen Schmökern ein, jedenfalls wenn man die französische Fauna ein bißchen kennt oder an einer bestimmten Gruppe interessiert ist. Nun soll es aber genug damit sein, ich will nur noch erwähnen, daß dem Band eine komplette Artenliste (check-list) vorangestellt ist, eine Übersicht der wichtigsten nomenklatorischen Änderungen seit Leraut (1997), eine Liste der für Frankreich neu nachgewiesenen Arten, aus der ich eben zitiert habe, eine Liste der aus der französischen Fauna gestrichenen Arten (die sich als Fehlbestimmungen herausgestellt haben oder nur einmal oder unter zweifelhaften Umständen gefunden wurden oder die auf singuläre Einschleppungen aus anderen Kontinenten zurückgehen). Darüber hinaus enthält das Buch ein Kapitelchen mit knappen biographische Angaben über Lepidopterologen, die zwar auch Linné, Hübner u.a. enthält, aber schwerpunktmäßig und deshalb für den ausländischen Leser besonders aufschlußreich auf die für die französische Fauna wichtigen Forscher eingeht: Wer waren denn eigentlich Bellier, Boisduval, Bourgogne, Boursin, Chrétien, Constant, Dufay, Duponchel und all die anderen?

Adressenlisten (mit e-mail) der bedeutendsten französischen entomologischen Vereine und Gesellschaften, Herausgeber lepidopterologischer Zeitschriften, Anbieter von entomologischem Zubehör, entomologische Buchhändler und (nicht nur französische) Lepidoptera-Internetseiten runden das Buch ab.

Fazit: exzellente Bebilderung und vollständige Repräsentation aller Arten Frankreichs und Korsikas – mit vielen selten abgebildeten mediterranen Arten – nach aktuellstem faunistischem Stand zusammen mit einem für das Gebotene sehr günstigen Preis machen das Werk interessant für jeden, der in Frankreich (oder in den unmittelbaren Nachbargebieten) Nachtfalter sammelt, beobachtet und fotografiert.