Hofmann, Axel & W. Gerald Tremewan (2017): The Natural History of Burnet Moths (Zygaena Fabricius, 1775) (Lepidoptera: Zygaenidae). Part 1. Proceedings of the Museum Witt Munich 6 (1). Munich and Vilnius. 631 pp., 4663 figures (distribution maps, colour figures, black and white genitalia figures), 73 tables. Hardback. ISBN 978-3-940732-32-3. Preis: 150 €.

Besprechung von Erwin Rennwald (14. März 2018)

Das absolute Muss für jeden Zygaenenforscher – und eine wertvolle Lektüre für jeden, der nicht nur Namensetiketten an seinen Faltern oder Bildern will. Ein fantastischer Band mit unendlich vielen Falter- und tollen Landschaftsaufnahmen …

Eigentlich habe ich schon viele Bücher besprochen und darin ein bisschen Routine – aber hier drohte mir bis zuletzt ein Scheitern. Einige andere waren schneller mit ihren Besprechungen – aber es tröstet mich, dass sie sich aus den gleichen Gründen wie ich schwer getan haben. Eigentlich würde es in Fachkreisen reichen zu sagen „Die Zygaenen-Monographie von Hofmann & Tremewan ist draußen“ – das sollte reichen, denn Axel Hofmann und Gerry Tremewan kennt man ja sowieso seit Jahrzehnten als Intensivsttäter der Zygaenenforschung und mitreißende Vortragsredner.

Wie viel leichter ist es doch, ein anderes Buch zu besprechen als dieses Werk hier; etwa ein Buch, das einen klaren Schwerpunkt hat, sagen wir mal die Genitalien der Gracillariiden oder die Taxonomie und Verbreitung der Notodontidae, oder einfach ein breiter angelegtes Buch, das die wesentlichen Standards erfüllt, ansonsten aber mehr oder weniger im gewohnten Rahmen bleibt. Nein, dieses Opus ist fast nicht zu besprechen. Noch schlimmer wird es aber, wenn man vom Zweitautor dieses Werks schon viel gelesen hat und den Erstautor schon mehr als ein halbes Leben lang kennt. Eine, wie auch immer geartete „objektive“ Besprechung ist da nicht möglich. Ich will sie auch gar nicht versuchen. Dazu bin ich viel zu begeistert von dem Band.

Fangen wir mit dem Titel an. Schon bevor ich das Buch aufschlug wusste ich: Der passt! „The Natural History of …“. Da denkt man als Lepiforums-Bearbeiter sofort an das vielbändige Prachtwerk „The natural history of the Tineina“ (1855-1873) von Henry Tibbats Stainton, aber auch an noch ältere Titel wie „A Natural History of English Insects“ von E. Albin (1720) und „The natural history of British insects“ von E. Donovan (1806). Aber wollen die Autoren denn tatsächlich mit solchen des vorvorigen Jahrhunderts verglichen werden? In gewisser Weise ja – und darum finde ich den Titel auch genial! Was zeichnet denn das Werk von Stainton aus? Klasse Farbtafeln – nicht nur der Falter, sondern auch der Präimaginalstadien „in Aktion“, dazu akribische Beschreibungen der Lebensweise aller Stadien, umfassende Angaben zur Verbreitung der Arten, ein historischer Rückblick auf die Erforschung und Erforscher der Arten und vieles, vieles mehr – oder einfacher: Alles!

Die englische Wikipedia erläutert: “Natural history is the research and study of organisms including animals, fungi and plants in their environment, leaning more towards observational than experimental methods of study […] Natural history encompasses scientific research but is not limited to it […] Grouped among the natural sciences, natural history is the systematic study of any category of natural objects or organisms. That is a very broad designation in a world filled with many narrowly focused disciplines.” Passt das? Ja und nein. Nein, weil in dem Werk doch eine ganze Menge experimenteller Ergebnisse drin stecken, z.B. aus diversen Kreuzungsversuchen im Labor (bzw. in der Küche) [die Autoren haben sich da selbst stark gebremst und lassen (S. 6) wissen: "For various reasons it was decided not to deal with hybridisation of Zygaena species in the present work, but it is hoped that this will form a separate monograph in the future".]. Aber ganz klar ja, weil die Beobachtung vor Ort immer die zentrale Rolle spielte – es wurden schlichtweg alle Arten vor Ort studiert, auch deren Präimaginalstadien – Zuchten lieferten nur zusätzliche Ergebnisse zum Bild, das im Gesamtverbreitungsgebiet der einzelnen Arten gewonnen wurde. Auch wenn man dazu in entlegene und nicht immer ungefährliche Gegenden von Iran, Afghanistan oder sonst wohin reisen musste: „Zygaena first!“ könnte man das Motto umschreiben, das die Autoren jahrzehntelang antrieb.

Zum Aufbau: Der sehr schwergewichtige Band 1 ist ein Buch zum Schmökern. Man kann aufschlagen wo man will – es macht Spaß! Die schier unglaubliche Zahl von 4663 Abbildungen umfasst einfach alles: viele, viele Falter in der Natur, Abbildungen von Zygaenen-Fossilien (Stichwort „‘Zygaena‘ miocaenica”), Falter-Präparate, Genitalabbildungen beider Geschlechter aller Arten, Karten mit Schwerpunkten von Vorkommen von besonders vielen und endemischen Arten, Stammbäume, Raupenfotos, Puppen- und Kokonfotos, REM-Aufnahmen zahlreicher mikroskopischer Feinstrukturen – aber auch viele Landschaftsaufnahmen und nicht zuletzt Abbildungen der Zygaenen-Forscher der verschiedenen Jahrhunderte. Man liest die Text-Legenden und ganz schnell steckt man mitten im Text der entsprechenden Kapitel und vergisst dabei die Zeit – „Natural History“ eben … Kapitel 1 ist kurz und erläutert die Gliederung des dreibändigen Gesamtwerks mit den Kapiteln 1-8 (Band I [2017]), 9-22 (Band 2 [noch in Bearbeitung]) und dem Rest (Band 3 [noch in Bearbeitung]). Man weiß also schon, was einen in Band 2 und Band 3 erwarten wird – und es fällt schwer, darauf warten zu müssen.

Kapitel 2 heißt „Origin, phylogeny, out-groups and systematics“. Man erwartet also zu Recht eine Checkliste aller 108 auf der Erde vorkommenden Zygaena-Arten, deren Zuordnung zu Untergattungen und Gruppen. Aber vom Beginn des Kapitels (S. 9) bis zur Checkliste (S. 52) ist viel Platz für die höhere Taxonomie der Zygaenoidea, die Systematik und Verbreitung der aktuellen Zygaeninae, die Funde aus dem Oligo- und Miozän, phänotypische Diversität bei Faltern und Raupen, und und und. Man findet Karten mit den aktuellen Hotspots der Verbreitung der Arten und solche mit ihren hypothetischen Entstehungszentren. Man wird also vom Tier vor seiner Nase mitgenommen auf eine virtuelle Zeitreise, die einen viele Zusammenhänge ganz neu (oder erstmals) verstehen lässt. Und nach der Checkliste ist immer noch nicht alles klar, denn dann folgen noch 5 Seiten über „Undiscovered relationships, open questions, prospective tasks“. Und da wird jedem Schubladendenken der Boden unter den Füßen weggezogen. Haben wir gerade gelernt, dass wir es mit genau 108 Zygaena-Arten zu tun haben, fängt auch diese Zahl an zu verschwimmen. Mit wie vielen „guten“ und wie vielen „schlechten“ Arten haben wir es zu tun? Oft genug streiten wir uns darum und schaffen uns Kunstbegriffe, um unsere Schubladen zu retten – Hofmann & Tremewan zeigen uns schonungslos auf, was davon einer sauberen Analyse standhält: „In an attempt to clarify such dilemmas, the unhelpful and indeed ambigous terms ‚bad species‘, ‚semispecies‘, ‚superspecies‘ or ‚species-complex‘ have been introduced by some taxonomists, but none of these resolves the problem.“ Gerade am Beispiel der Gattung Zygaena können sie zeigen, dass man, fast immer wenn man tiefer gräbt, auf solche Abgrenzungsprobleme stößt. Besonders deutlich wird das an der „manlia-group“, die die Autoren als „Taxonomic nightmare“ bezeichnen.

Kapitel 3 (“The Zygaena purpuralis/ minos complex: an example of complicated taxonomy in Zygaena species.“): Als ob es nicht genug wäre, werden die Probleme an einem Artenpaar fortgesetzt, das wir aus Mitteleuropa gut kennen, und das sich hier anhand anderer Raupenfärbung, anderer Raupen-Nahrungspflanzen und Genitalunterschieden bei den Faltern eigentlich ganz klar als 2 verschiedene Arten fassen lässt. Doch die purpuralis-Gruppe besteht aus 8 Arten – oder schreiben wir besser „Arten“ (?) – deren Abgrenzung einen verrückt machen kann. Vielleicht sind es strenggenommen nur 2 oder 3 reproduktiv isolierte Einheiten. Wir können die „Arten“ nach den Nahrungspflanzen – Thymian (und andere Lippenblütler) oder Doldenblütler – trennen, aber innerhalb beider gibt es wieder von der Zeichnung und Färbung her unterschiedlicher Raupen, die auch unterschiedliche Nahrungspflanzen nutzen. Und betrachtet man die Genitalien von Z. minos und Z. purpuralis, ist da sehr viel Variabilität mit regional unterschiedlichen Musterfrequenzen drin. Je tiefer wir forschen, desto weniger haben wir diese Arten im Griff. Und das ist gut so. Kapitel 3 ist mein Lieblingskapitel im Buch, das ich jedem angehenden Biologen und jedem begeisterten Schmetterlings-Amateur wärmstens zum Lesen empfehle (ich habe es innerhalb einiger Monate mindestens dreimal komplett gelesen und war jedes Mal fasziniert …)

Kapitel 4 („Distribution and zoogeography“) ist mit fast 200 Seiten das umfassendste. Das war zu erwarten, denn wenn die beiden Autoren überhaupt einen inhaltlichen Forschungsschwerpunkt in ihrer Gruppe haben, dann diesen! Man taucht hier ganz tief hinab in Eiszeit-Refugien und nacheiszeitliche Ausbreitungswege und erahnt, wie so manche heutige Verbreitungsmuster zustande gekommen sein könnten – einschließlich der Entstehung lokaler Taxa ganz unterschiedlicher taxonomischer Ränge. Der mit Abstand umfangreichster Unterabschnitt heißt hier „Regional composition, origin, endemism, expansion and invasion“ – wir ahnen schon, dass man das nur als Paket verstehen kann, nicht als Sammlung von Einzelteilen. Die Autoren benennen für die Gattung Zygaena 15 Unterareale („subareas“), von denen immerhin 7 Europa betreffen; umfangreiche Tabellen und Grafiken sind hier eingebettet in viele kolorierte (und so leicht verständliche) Karten, viele Falterfotos und vor allem fantastische Lebensraumfotos von Marokko über Europa, die Türkei, Afghanistan, Usbekistan, Tadschikistan bis – isoliert – Japan.

Kapitel 5 („Morphological terminology and early stages“) führt uns in die fantastische Welt der Nahaufnahmen, Mikro-Aufnahmen und REM-Aufnahmen und erklärt uns so ganz nebenbei die Terminologie der Feinstrukturen der Eier, Raupen und Kokons.

Kapitel 6 („Variation in phenotype“) beginnt mit einer Tafel aus der Artmonographie von Dryia (1959) mit 71 (!) unterschiedlichen Faltern von Zygaena ephialtes – also der Art, die nicht umsonst „Veränderliches Widderchen“ genannt wird. Dass es in diesem Kapitel viel zu schreiben und noch mehr zu zeigen gibt, ist klar – und dass die Variabilität hier Mustern folgt nicht überraschend. Und dass die Variabilität sich nicht nur auf die Falter, sondern genauso auf die Raupen und Kokons bezieht, überrascht auch nicht. Dass es mitunter Sexual-Dimorphismus gibt, kennen wir von anderen Schmetterlingen auch, aber polytypisches Erscheinungsbild bei an jedem Ort monomorphem Aussehen und vor allem verschiedene Formen des Polymorphismus sind bei Zygaenen so ausgeprägt und gleichzeitig so gut studiert wie in keiner anderen Gruppe. Die Fülle an Abbildungen lässt einen da aus dem Staunen gar nicht herauskommen. Und automatisch liest man, wie die Autoren das zu erklären versuchen. Und damit haben wir schon den Einstieg in Kapitel 7.

Kapitel 7 („Geographical patterns and clusters“): Rote Flecken, gelbe Flecken, schwarze Flecken und vieles mehr – sie alle zeigen geographische Muster, die man erst versteht, wenn man sich weit über die Grenzen Europas hinauswagt und die Arten im Gesamtareal studiert. Wir haben es als Leser bequem – die Autoren nehmen uns im Liegestuhl mit auf ihre strapaziösen Reisen.

Kapitel 8 (Historical observations on the biology of burnet moths“): Ich habe oben „A Natural History of English Insects“ von Eleazar Albin (1720) erwähnt. Nach Hofmann & Tremewan (2017) gibt es in diesem Werk die älteste “life history” (mit Raupe, Kokon und Falter) eines Widderchens. Die folgenden 40 Seiten zeigen Abbildungen der frühen Zygaenen-Forscher und Auszüge aus deren Tafeln – im Text werden die Autoren hinsichtlich ihres Beitrags zur Zygaenenforschung gewürdigt – die nächsten 12 Seiten gelten den Forschern des 20. (und 21.) Jahrhunderts. Dass die Autoren stolz sind auf ihre mittlerweile 14 internationalen Zygaenen-Symposien (ab 1980) und sie deshalb Bilder der Teilnehmer zeigen, wird ihnen sicher niemand verübeln. Wer sich so weit durchs Buch gekämpft hat, gehört ja schon fast selbst mit zur Familie. Und – ja, fig. 2403 (S. 512) das sind die beiden, auch wenn die Namen dort bescheiden weggelassen wurden.

Wichtig: Wer immer noch jammert, dass er keine guten Genitalabbildungen von Zygaenen findet, dem kann geholfen werden: Die Seiten 525 – 582 sind ganz den Genitalabbildungen beider Geschlechter jeweils mehrerer Individuen aller vorkommenden Arten gewidmet – insgesamt mehr als 2260 Einzelabbildungen!

Was fehlt noch? In Band 2 soll es Kapitel geben zu den Themen Überlebensstrategien bezüglich ungünstiger saisonaler Bedingungen, Fortpflanzungsbiologie, Phänologie und Voltinismus, räumlicher Dynamik, Abwehrverhalten, „Cryptic or aposematic?“, Mimikri oder doch nicht?, Fressfeinde, Parasitoide und Parasiten, Zygaenen und Mendelsche Genetik, Zuchttipps, Verantwortung und Schutz. Und was fehlt noch? Natürlich der systematische Teil, in dem Art für Art ganz detailliert und in voller Breite abgehandelt wird – also das, was für Band 3 vorgesehen ist.

Die Idee für die Natural history of burnet moths wurde 1989 geboren. Werden wieder fast 30 Jahre bis zum Band 2 und nochmals so viele Jahre bis zum Band 3 vergehen? Oder wird es noch länger dauern, weil Gerald Tremewan während der Drucklegung zu Band 1 verstorben ist? Nein! Axel Hofmann hat mir versichert, dass die beiden anderen Bände schon weit gediehen sind, also auch in den nächstfolgenden Jahren erscheinen sollen. Ich jedenfalls freue mich schon darauf.

Ein Buch für Zygaenenforscher? Ganz klar, aber die werden es alle schon am ersten Tag bestellt haben (oder sie müssen sich genieren). Ein Buch nur für Zygaenenforscher? Das wäre jammerschade! Wer die Vielfalt des Lebens auf dieser Erde ein bisschen tiefer verstehen will, der wird gerade mit Band 1 dieses Werkes sehr gut bedient. Und wer meint, die Welt verstanden zu haben, der wird beim Schmökern in diesem Band wieder zu mehr Demut zurückfinden und erahnen, was er alles nicht verstanden hat. Und das ist gut so.

Ist das Buch für den Nicht-Biologen schwer zu lesen? Meine Frau sagt nein. Und sie hat sicher Recht. Das liegt natürlich schon mal an den schier unendlich vielen Bildern, von denen jedes die Neugier weckt. Aber das liegt auch an den Autoren, denn sie schreiben ganz bewusst: „This monograph has been written in a style that should appeal to the non-specialist as well as trained scientists; as a consequence, short repetitions are necessary, while less-used or specialist terminology is explained in the glossary.“

Zum Preis: 150 € für ein Buch sind ein stolzer Preis – doch wenn man dieses Buch in Händen hält, dann weiß man, dass es sich um ein Schnäppchen handelt! Man kann auch rechnen: 3,2 Cent pro Abbildung und den ganzen Text kostenlos dazu – günstiger geht es nicht. Der Band ist nur deshalb so günstig, weil der Druck durch die „Thomas-Witt-Stiftung zur Förderung der Wissenschaft und Forschung im Bereich der Zoologischen Systematik“ gefördert wurde. Man könnte auch sagen, weil Thomas Witt persönlich wollte, dass dieser Prachtband erscheint, denn für einen gewinnorientierten Verlag gibt es hier wohl nichts zu gewinnen; danke dafür!