Version 4 (neueste) vom 9. Juni 2021 um 10:54:09 von Jürgen Rodeland
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Phylogenie ist die Wissenschaft, die sich mit der natürlichen Verwandtschaft der Arten beschäftigt (wörtlich „Stammesgeschichte“).

Ziel phylogenetischer Forschung ist es, einen auf möglichst vielen Fakten beruhenden, möglichst widerspruchsfreien und in sich schlüssigen Stammbaumentwurf (= eine plausible Hypothese über die Verwandtschaftsbeziehungen) einer monophyletischen Tiergruppe zu erhalten. Nicht morphologische Ähnlichkeiten oder Symplesiomorphien, sondern nur gemeinsame abgeleitete Merkmale (Synapomorphien) dürfen zur Begründung eines phylogenetischen Stammbaumentwurfs herangezogen werden. — Der Gegensatz zu phylogenetischer Systematik ist typologische Systematik; dabei werden Gruppen nur nach der Entscheidung „Merkmal x vorhanden/nicht vorhanden“ gebildet, also nur nach äußerlicher Ähnlichkeit, ohne Interpretation der realen Verwandtschaft. Da keiner die Evolution der rezenten (= heute lebenden) Arten in den letzten Jahrmilliarden verfolgt und aufgezeichnet hat, sind natürlich frühe Stammbaumentwürfe immer typologisch gewesen, und es muss unser Bestreben sein, durch Berücksichtigung und Interpretation möglichst vieler Merkmale den realen Verwandtschaftsverhältnissen nach und nach immer näher zu kommen.

Mono-/poly-/paraphyletisch: Monophyletisch ist eine Gruppe dann, wenn alle rezenten (= heute noch lebenden) Nachkommen einer gemeinsamen Stammart in derselben nomenklatorisch-systematischen Einheit geführt werden; kein Nachkomme darf fehlen, keine Art darf eingeschlossen werden, die nicht aus derselben direkten Abstammungslinie stammt. (Beispiel: etwa die Überfamilie Noctuoidea dürfte ziemlich sicher wegen ihrer Definition über das einzigartige thorakale Tympanalorgan eine monophyletische Gruppe sein, auch wenn man innerhalb dieser Gruppe dann noch Probleme hat, die Untergruppen sauber phylogenetisch begründet einzuordnen.) — Polyphyletisch ist eine Gruppe dann, wenn aus mehreren Abstammungslinien untereinander nicht näher verwandte Arten (aber eben nicht alle, sondern nur einige!) aufgrund äußerlicher Ähnlichkeiten (durch Konvergenz oder Plesiomorphie) in eine gemeinsame, dann nicht natürliche, sondern künstliche, Gruppe zusammengefasst werden. (Beispiel: die früher von Linnaeus und anderen eingeführte und benutzte Gruppe der „Vermes [Würmer]“ war eine „Kraut-und-Rüben-Mischung“ aus mehreren völlig verschieden im System stehenden Tiergruppen, die sich alle nur durch eine längliche Körperform ohne Rückgrat und ohne Beine auszeichneten.) — Paraphyletisch ist eine Gruppe dann, wenn aus einer größeren Gruppe mehrere jeweils für sich monophyletische Teilgruppen abgespalten wurden und der verbleibende Rest dann in Ermangelung weiterer sichtbarer Merkmale in einem Topf zusammenbleiben. (Beispiel: Die klassischen „Reptilien“ [also mit Schildkröten, Krokodilen und so weiter, aber ohne Vögel und Säugetiere!] waren eine solche paraphyletische Restgruppe.)

[Sym-]Plesiomorphie/[Aut-/Syn-]Apomorphie: Plesiomorphien sind evolutiv alte Merkmale, die von einem weit zurückliegenden Vorfahren übernommen wurden und deswegen nicht nur in der betrachteten Gruppe, sondern auch in anderen, außenstehenden Gruppen vorkommen. Autapomorphien sind neu „erfundene“ Merkmale einer einzelnen Art; Synapomorphien sind Merkmale, die in der Evolution von einer Art „erfunden“ wurden und bei allen heute noch lebenden Nachkommensarten dieser Stammart vorkommen. Nur Synapomorphien dürfen in der phylogenetischen Systematik zur Begründung von monophyletischen Taxa benutzt werden. Verwendet man andere, plesiomorphe Merkmale, werden die resultierenden Gruppen automatisch para- oder gar polyphyletisch. Bedauerlicherweise kommt es natürlich in der Evolution oft vor, dass Merkmale auch wieder reduziert (abgebaut) oder in oft überraschender Weise verändert/weiterentwickelt werden; das macht die Interpretation, was plesiomorph und was apomorph ist, in der realen Systematik leider immer so schwierig ... — Die Begriffe sind relativ und jeweils von der betrachteten Hierarchiegruppe abhängig: Ein Merkmal wird in der Evolution zuerst als eine [Aut-]Apomorphie von einer einzelnen Art „erfunden“; die Nachkommensarten dieser Art haben das Merkmal im Außenvergleich gemeinsam als Synapomorphie; wenn es später sehr viele Nachkommensarten sind, die aufgrund anderer Merkmale in weitere Untereinheiten untergliedert werden, tragen diese Untereinheiten das ursprüngliche Merkmal als gemeinsame Symplesiomorphie; wird das ursprüngliche Merkmal in einigen Teilgruppen reduziert (oder auch stark abgeleitet) und bleibt in anderen (mehr oder weniger unverändert) erhalten, kommen die Schwierigkeiten mit Unterschieden zwischen Ähnlichkeiten und tatsächlichen Verwandtschaften ins Spiel, die die systematische Biologie so schwierig, aber auch abwechlungsreich, interessant und spannend machen ...

(Autor: [Wolfgang A. Nässig]